Rundgang im Stadtraum

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Im städtischen Umfeld der Skulptur Treblinka am Amtsgerichtsplatz lassen sich einige weniger bekannte Orte der NS-Geschichte sowie vielfältige Erinnerungszeichen für Verfolgte des Regimes finden. Die hier vorgestellten Orte stehen in Beziehung zueinander und zeigen exemplarisch eine lokale Gedenklandschaft und ihre Entwicklung auf. 

Wir laden Sie ein, die Orte auf einem Rundgang selbst zu besuchen.

Stolperstein für Franziska Sommerfeld - Suarezstraße 23

Franziska Sommerfeld hat die Nummer 35 auf der »Transportliste« der sogenannten »Alterstransporte« nach Theresienstadt. Alterstransporte 30-34 (I/31 - I/35) nach Theresienstadt (insgesamt 500 Namen), 27.07.1942 - 31.07.1942. Arolsen Archives.

In Treblinka werden mehr als 800.000 Jüdinnen*Juden sowie etwa 2000 Sint*ezza und Romn*ja getötet. Der größte Teil von ihnen wird aus dem besetzten Polen nach Treblinka deportiert. Zu den Opfern gehören auch Menschen aus anderen Teilen Europas, darunter einige hundert Berliner Jüdinnen*Juden, die meist über das Lager Theresienstadt nach Treblinka gelangen. So auch Franziska Sommerfeld, die bis 1942 in unmittelbarer Nähe zum heutigen Standort der Skulptur Treblinka, in der Suarezstraße 23, lebt. An sie und drei andere Bewohner*innen des Hauses erinnern seit November 2013 Stolpersteine. 

Die Gedenksteine werden vor die einstigen Wohnhäuser bzw. die letzten bekannten freiwilligen Adressen von Verfolgten des Nationalsozialismus verlegt. Erfinder dieses dezentralen Denkmals ist der Künstler Gunter Demnig. In Berlin werden seit 1996 etwa 9.200 Stolpersteine verlegt. Im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf liegen 3654 Stolpersteine (Stand Ende 2022). Lokale Gruppen wie die Stolperstein-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf gestalten das Projekt, indem sie recherchieren, die Verlegungen vorbereiten und versuchen, Nachfahren zu ermitteln und zu kontaktieren. 

Franziska Sommerfeld wird 1876 im damaligen Stralkowo in der Nähe von Posen geboren. Es ist nicht viel über sie bekannt, außer dass sie als Angestellte in Berlin arbeitet. Die Alleinstehende lebt als Untermieterin bei dem jungen Ehepaar Rosa und Harry Oppenheimer, an die ebenfalls zwei Stolpersteine erinnern. Beide werden nach Zwangsarbeit, u.a. für Siemens und Halske in Berlin, 1943 im Rahmen der sogenannten »Fabrikaktion« nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Franziska Sommerfeld gelangt 1942 in das »Sammellager« in der Großen Hamburger Straße und wird von dort am 29. Juli 1942 mit dem »33. Alterstransport« in das Lager Theresienstadt deportiert, wie viele sogenannte »Reichsjuden« über 65 Jahre. Sogenannte »Heimeinkaufsverträge«, die mit Vorauszahlungen oder Vermögensübertragungen verbunden sind, stellen ihnen kostenfreie Unterbringung, Verpflegung und Krankenversorgung in Aussicht, die mit der Realität in Theresienstadt nichts gemein haben. Die Vermögenswerte fallen später dem Reichssicherheitshauptamt zu. Theresienstadt fungiert auch als »Sammellager« für die Deportationen in andere Konzentrations- und Vernichtungslager. Nur wenige Wochen nach ihrer Ankunft in Theresienstadt wird Franziska Sommerfeld am 26. September 1942 nach Treblinka deportiert und dort ermordet.

Ehemaliges Reichskriegsgericht – Witzlebenstraße 4–5

1934 führt das NS-Regime eine eigene Gerichtsbarkeit für Militärangehörige wieder ein, nachdem in der Weimarer Republik 1920 eine solche Institution bereits abgeschafft wurde. Das Reichskriegsgericht wird 1936 gegründet und in dem repräsentativen Gebäude des ehemaligen Reichsmilitärgerichts untergebracht, das 1908 bis 1910 unweit des Lietzensees errichtet wurde. Dieser Standort wird nicht zufällig gewählt. Als Nachfolgeinstitution soll das Reichskriegsgericht an die Traditionen des Kaiserreichs anknüpfen. Als höchster Gerichtshof der NS-Wehrmachtsjustiz ist es zuständig für Hoch- und Landesverrat von Militärangehörigen, »Kriegsverrat« und Wehrdienstverweigerung aus religiösen Gründen. Mit Kriegsbeginn 1939 wird seine Kompetenz erweitert um die Delikte Spionage, Wirtschaftssabotage und »Wehrkraftzersetzung«. 

Grundsätzlich kann unter der verschärften Militärgerichtsbarkeit jeder zum Tode verurteilt werden, der Deutschland einen irgendwie gearteten Nachteil verschafft.  So sorgt u.a. der neue Straftatbestand »Wehrkraftzersetzung« dafür, dass jede politische Äußerung gegen die Staatsführung mit dem Tod bestraft werden kann. Insbesondere Widerstandsbewegungen, sowohl in Deutschland als auch in den besetzten Ländern, werden durch das Reichskriegsgericht verfolgt. Ein bekanntes Beispiel ist die »Rote Kapelle«. Die lose organisierte Widerstandsgruppe um den Nachrichtenoffizier Harro-Schulze Boysen versucht das Ausland über deutsche Kriegspläne zu informieren und hat Verbindungen zu amerikanischen und sowjetischen Botschaftsvertreter*innen. 

Insgesamt werden zwischen 1939 und 1945 mehr als 1200 Todesurteile aktenkundig ausgesprochen. Die Entscheidungen des Gerichts können nicht angefochten werden. Erst ab 1998 werden NS-Unrechtsurteile des Reichskrieggerichts aufgehoben: 2002 die Urteile gegen Deserteure und 2009 die Urteile wegen Kriegsverrat.

Seit 1951 ist das Gebäude Dienstsitz des Kammergerichts für West-Berlin. Ab 1997 steht es leer, bevor 2006 der Umbau zu einem Wohnkomplex beginnt. Vor Ort erinnern mehrere Gedenkzeichen an die Geschichte des Hauses.

Reichsmilitärgericht. Charlottenburg, 1911. Museum Charlottenburg-Wilmersdorf.
Die erste Gedenktafel am Standort des ehem. Reichskriegsgerichts ehrt seit 1984 den ehemaligen Richter Karl Sack. Zwischen 1938 und 1939 ist er am Reichskrieggericht an 14 Verurteilungen wegen Landesverrats mit Todesurteil beteiligt. Als Chef der Heeresjustiz unterstützt Sack während des Zweiten Weltkriegs den militärischen Widerstand. In den Plänen der Verschwörer des 20. Juli 1944 ist er als Justizminister einer zivilen Regierung vorgesehen. Nach dem gescheiterten Umsturzversuch wird er am 9. August 1944 verhaftet und am 9. April 1945 auf Befehl Hitlers im KZ Flossenbürg ermordet. Gedenktafel für Karl Sack. Charlottenburg, Juli 2022. Museum Charlottenburg-Wilmersdorf/ Laura Brüggemann.
1988 gibt es einen erfolglosen Versuch, eine Gedenktafel für die Opfer des Reichskriegsgerichts am Gebäude anzubringen. Eine Künstler*innengruppe bringt 1989 eine hölzerne Tafel am Gebäude an, die ein Kammerrichter entfernen lässt. Zum 50. Jahrestag des Kriegsbeginns wird schließlich eine Stele auf dem Gehweg, für den der Bezirk zuständig ist, aufgestellt. Gedenkstele für die Opfer des Reichskriegsgerichts. Charlottenburg, November 2021. Museum Charlottenburg-Wilmersdorf/ Laura Brüggemann.
1997 wird eine Bronzetafel für den österreichischen Pazifisten Franz Jägerstätter enthüllt, die wiederum nicht am Gebäude selbst montiert werden durfte. Der katholischen Landwirt wurde 1943 wegen Kriegsdienstverweigerung vor dem Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt. Jägerstätter gilt als ein wichtiger Vertreter der Friedensbewegung und des gewaltlosen Widerstands. Pax Christi, das Ghandi-Informationszentrum und eine Kampagne gegen die Wehrpflicht setzten sich für die Gedenkinitiative ein. Gedenktafel für Franz Jägerstätter. Charlottenburg, November 2021. Museum Charlottenburg-Wilmersdorf/ Laura Brüggemann.
Gegenüber der Gedenktafel für Franz Jägerstätter verweist ein Verkehrsspiegel auf das Denkzeichen zur Erinnerung an die Ermordeten der NS-Militärjustiz am Murellenberg. Seit 2002 erinnert das Mahnmal am Murellenberg an eine Hinrichtungsstätte der Wehrmacht. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs werden in der Murellenschlucht Deserteure, Wehrdienst- u. Befehlsverweigerer, nach Urteilen des Reichskriegsgerichts, standrechtlich erschossen. Bisher sind ca. 230 Opfer bekannt. Die 106 Verkehrsspiegel der Künstlerin Patricia Pisani entlang des Waldweges von der Glockenturmstraße bis in die Nähe des Erschießungsortes hinter der Waldbühne bringen die verdrängten Verbrechen der NS-Justiz ins “Gesichtsfeld” bringen. Verkehrsspiegel am ehem. Reichskriegsgericht. Witzlebenplatz, Charlottenburg, 14.11.2009. Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf/ KHMM.

Ehemaliges Frauengefängnis – Kantstraße 79

Kgl. Amtsgericht mit Gefängnisbau (links) im Hinterhof, Kantstraße 79, Charlottenburg, um 1900. Museum Charlottenburg-Wilmersdorf/ Fotoalbum Alfred von Saldern-Damerow.

Auch das ehemalige Strafgericht in der Kantstraße 79 spielt in der nationalsozialistischen Justiz eine wichtige Rolle. Das Gebäudeensemble wird 1896 bis 1897 von den Architekten Eduard Fürstenau und Adolf Bürckner errichtet. Das Vorderhaus beherbergt in dieser Zeit das Schöffengericht, später die Nachlassverwaltung, die Landesanstalt für Chemie und zuletzt das Grundbuchamt Charlottenburg-Wilmersdorf. 

Im Hinterhof befindet sich ein Gefängnis, das ursprünglich als Vollzugsanstalt für weibliche Jugendliche genutzt wird. Zwischen 1933 und 1939 werden hier Regimegegner*innen inhaftiert, ab 1939 ausschließlich Frauen, insbesondere aus den Reihen der von den Nationalsozialisten diffamierend als »Rote Kapelle« bezeichneten Widerstandsgruppe. Nachdem das Netzwerk im Sommer 1942 von der Gestapo verfolgt und vor dem Reichskriegsgericht verurteilt wird, werden viele weibliche Mitglieder hier untergebracht, wie zum Beispiel Cato Bontjes van Beek, Eva-Maria Buch oder Marie Terwiel. Ihre Formen gegen den Nationalsozialismus vorzugehen sind vielfältig. Sie diskutieren, helfen Verfolgten und dokumentieren nationalsozialistische Verbrechen. Über ihren engeren Kreis hinaus wenden sie sich an die Öffentlichkeit und versuchen politische Aufklärungsarbeit im In- und Ausland zu leisten. Mehr als 50 Mitglieder der »Rote Kapelle« werden ermordet, viele in der Hinrichtungsstätte Plötzensee.

Nach der Schließung des Gefängnisses im Jahr 1985 nutzt der Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf das Gebäude bis 2010 als Archiv für das Grundbuchamt. Mittlerweile haben Berliner Architekt*innen das denkmalgeschützte Ensemble transformiert und im alten Gefängnisgebäude ein Hotel eröffnet.

Gedenktafel für Bernhard Weiß – Kaiserdamm 1

Das ehemalige Polizeipräsidium Charlottenburg wird nach vierjähriger Bauzeit 1910 fertiggestellt. In den 1920er Jahren hat der damalige Berliner Polizeivizepräsident und Chef der Kriminalpolizei Bernhard Weiß hier eine Dienstwohnung. 

Als Jude in seiner Position, der entschieden gegen die SA vorgeht, wird Weiß schnell zu einem Ziel der Nationalsozialisten. Insbesondere der damalige NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels greift ihn regelmäßig mit antisemitischen Diffamierungen persönlich an. Weiß geht gegen die Rechtsbrüche der Nazis, ihre Straßenschlachten und die Hetzkampagnen unermüdlich vor. Er führt über 60 erfolgreiche Prozesse gegen Goebbels und verhängt sogar ein zeitweises Betätigungsverbot gegen die NSDAP.

Als durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten 1932 die gesamte Regierung des Freistaates Preußen abgesetzt wird, verliert auch Weiß sein Amt. Der sogenannte »Preußenschlag« führt zur Schwächung der föderalistischen Verfassung der Weimarer Republik und ebnet den Weg für das NS-Regime.

Noch am Abend der Reichstagswahlen vom 5. März 1933 stürmen SA-Männer die Wohnung von Bernhard Weiß am Steinplatz 3 in Charlottenburg. Er und seine Frau Lotte können rechtzeitig über den Hinterausgang entkommen. Es folgt eine Flucht auf Umwegen über Prag nach London. Weiß wird ausgebürgert, sein Vermögen beschlagnahmt. In London findet die Familie Unterstützung, führt aber ein bescheidenes und isoliertes Leben. Aufgrund einer Wende in der britischen Flüchtlingspolitik wird Weiß 1939 als sogenannter »feindlicher Ausländer« interniert.

Nach dem Krieg versucht Ernst Reuter, seit 1948 Oberbürgermeister von Berlin, ihn als Berater für den anstehenden Aufbau der Polizei zu gewinnen. Doch am 29. Juli 1951 stirbt Weiß an einer Krebserkrankung in London.

In Charlottenburg erinnern zwei Gedenktafeln an Bernhard Weiß. An der Wand des Polizeigebäudes am Kaiserdamm 1, das heute u.a. das Referat Umweltkriminalität des Landeskriminalamtes und den Polizeiabschnitt 24 beherbergt, ist seit 2010 eine Gedenktafel angebracht. Sie würdigt den »preußischen Juden« und »kämpferischen Demokraten« als einen der Wenigen, die sich »dem aufkommenden Nationalsozialismus mit rückhaltlosem Einsatz entgegenstellten«. Die zweite Tafel befindet sich am Steinplatz 3, dem letzten Berliner Wohnsitz der Familie Weiß.

Porträtaufnahme des Berliner Polizeivizepräsidenten Dr. Bernhard Weiß. Georg Pahl, Berlin, 1930. Bundesarchiv, Bild 102-10213 / CC-BY-SA 3.0.