Strafverfolgung und Gerichtsprozesse
Nur wenige Täter*innen der »Aktion Reinhardt« werden nach dem Krieg für ihre Verbrechen verurteilt. Zum einen sind viele von ihnen bei Kriegsende bereits tot. So stirbt Christian Wirth, der Inspekteur der Vernichtungslager, 1944 in der Nähe von Triest bei einem Überfall von Partisanen. Odilo Globocnik, SS- und Polizeiführer in Lublin, begeht in Gefangenschaft Suizid.
Zum anderen gibt es in der frühen Bundesrepublik keinen großen Willen, die NS-Täter*innen juristisch zur Rechenschaft zu ziehen. Erst in den 1960er Jahren finden große Prozesse gegen die Täter der »Aktion Reinhardt« statt. Doch mit diesem zeitlichen Abstand fällt es schwer, systematisch Zeugen und Taten zu ermitteln.
Schon bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges fordert die westdeutsche Gesellschaft einen »Schlussstrich« unter die Vergangenheit. Sie wehrt sie sich gegen die als unverhältnismäßig wahrgenommene, vermeintliche »Siegerjustiz« der Alliierten. Zahlreiche bereits verurteilte Täter*innen werden amnestiert. Frühe Prozesse kommen nur zustande, wenn Verfolgte zufällig ihre Peiniger*innen erkennen und selbst Anzeige erstatten. Die Rechtsprechung verhängt meist Strafen, die angesichts der Verbrechen fragwürdig gering sind.
Erst seit Ende der 1950er Jahre ist die bundesdeutsche Justiz mehr an einer Ahndung von NS-Gewaltverbrechen interessiert. 1958 sorgt der Ulmer Einsatzgruppenprozess für großes Aufsehen. Er verdeutlicht die bisherigen Versäumnisse der Strafverfolgung und zeigt, dass weiterhin zahlreiche Täter*innen straffrei in der Bundesrepublik leben.
Im gleichen Jahr wird in Ludwigsburg die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen eingerichtet. Sie beginnt, systematisch zu den verschiedenen Verbrechenskomplexen zu ermitteln. Ihre Ergebnisse gibt die Zentrale Stelle dann an die zuständigen Staatsanwaltschaften ab. Kurz nach ihrer Gründung sichtet sie Akten des Frankfurter Treblinka-Prozesses von 1950–1951. Die erneuten Ermittlungen führen schließlich zu den beiden größeren Treblinka-Prozessen vor dem Düsseldorfer Landgericht 1964–65 und 1969–1970. Darüber hinaus werden manche SS-Angehörige, die in Treblinka Dienst getan haben, auch für andere von ihnen begangene Verbrechen zur Rechenschaft gezogen.
»Das Versagen von deutscher Nachkriegsjustiz und alliierten Institutionen bei der Verfolgung von Massenmördern ist […] eklatant und kann eigentlich nur mit Ignoranz erklärt werden.«
Stephan Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust, 2020
»Mit diesem Blatt beginnt eine Untersuchung der in dem ehemaligen Vernichtungslager Treblinka/Polen begangenen Verbrechen, nachdem bei der Durcharbeitung der Akten [53/ Ks 1/50 StA Frankfurt/Main gegen Hirtreiter] aufgefallen ist, daß zahlreiche weitere Namen von Angehörigen der SS-Lagermannschaft in Treblinka zwar bekannt sind, hiervon jedoch bis jetzt kein weiterer ermittelt werden konnte. Es soll daher mit den folgenden Untersuchungen der Versuch gemacht werden, wenigstens einige dieser in erheblichem Maße belasteten SS-Angehörigen noch zu ermitteln.«
Aktenvermerk der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen vom 9. Juli 1959.
Herausforderungen bei der Ahndung von NS-Gewaltverbrechen
Die wenigen Jurist*innen, die in der frühen Bundesrepublik NS-Gewaltverbrechen ahnden wollen, sehen sich mit einigen Herausforderungen konfrontiert. Die Zeit läuft gegen sie: Wegen der Verjährung können ab 1960 nur noch Taten juristisch verfolgt werden, die als Mord klassifiziert werden. Andere Möglichkeiten zur Ahndung von NS-Verbrechen gibt es in Deutschland nicht mehr. Doch das Strafrecht ist nicht für die Verfolgung von Massenmorden gemacht: Um eine*n Angeklagte*n wegen Mordes zu verurteilen, muss eine direkte Mordbeteiligung sowie ein niederer Beweggrund wie Mordlust, Heimtücke oder besondere Grausamkeit nachgewiesen werden. Bei einem Großteil des Lagerpersonals gelingt das nicht, weil es so wenige Zeug*innen gibt.
Zudem wird die Verantwortlichkeit für das Morden bei „Haupttätern“ wie Hitler, Himmler oder Heydrich gesehen, alle anderen seien lediglich ihren Befehlen gefolgt. Die Justiz sieht die Massenmorde in den Lagern nicht als arbeitsteiligen Prozess mit einer Vielzahl von direkt und indirekt beteiligten Täter*innen. Deshalb fällt sie vielfach Urteile, die angesichts der hohen Opferzahlen verhältnismäßig niedrig ausfallen.
Die Verteidiger*innen behaupten, dass für ihre Mandanten ein sogenannter Putativnotstand bestanden hätte: Sie seien unverschuldet in eine Situation gekommen, in der sie dachten, dass eine Befehlsverweigerung ihren eigenen Tod bedeuten würde. Allerdings ist bis heute kein einziger Fall bekannt, bei dem jemand erschossen wurde, der nicht in einem KZ dienen oder an einer Exekution teilnehmen wollte. Außerdem hatten sich die Angeklagten freiwillig der SS angeschlossen. Es bestand stets die Möglichkeit, sich aus den Lagern versetzen zu lassen.
Der Prozess in Frankfurt am Main 1950–51
Der erste Prozess wegen der Verbrechen im Lager Treblinka findet 1951 vor dem Schwurgericht in Frankfurt am Main statt. Angeklagt ist Josef Hirtreiter (1909-1978), der im Rahmen der »Aktion T4« ab Oktober 1940 in der Tötungsanstalt Hadamar tätig gewesen war und deshalb 1946 verhaftet wird. Bei den Vernehmungen stellt sich heraus, dass Hirtreiter auch dem Lagerpersonal in Treblinka angehört hatte.
Durch die angehörten Zeug*innen sieht es das Gericht als erwiesen an, dass Hirtreiter Häftlinge getötet hat und dabei insbesondere bei der Ermordung von Kleinkindern äußerst brutal vorgegangen ist. Dadurch gilt er als „Intensivtäter”, der einen „Täterwillen” gezeigt habe. Das Gericht spricht ihn des Mordes schuldig. Dies ist ein bemerkenswertes Urteil, weil es Hirtreiter für das Morden in den Gaskammern mitverantwortlich macht, obwohl er dort nicht direkt tätig gewesen ist. Aber das Gericht hält fest, Treblinka sei „[...] nur zu dem Zweck errichtet worden, eine möglichst große Zahl von Juden zu töten.” Wie sich das Lagerpersonal im Lager konkret betätigt habe, sei dabei zweitrangig, so der Jurist und Rechtshistoriker Hans-Christian Jasch: "Bei einer derartigen, organisierten Massenstraftat sind alle solchen Handlungen als vorher bestimmte Einzelakte eines Gesamtgeschehens für den vorher bestimmten Erfolg, die Vernichtung zahlreicher Menschen, ursächlich, denn dieser Erfolg wurde nur durch das Zusammenwirken aller einzelnen Handlungen ermöglicht und wäre ausgeblieben, wenn diese nicht ausgeführt worden wären."
Diese Ausführungen zeigen, dass trotz des damals geringen Wissens über die »Aktion Reinhardt« klare Urteile möglich sind. Hirtreiter muss eine lebenslange Zuchthausstrafe absitzen und kommt erst 1977 krankheitsbedingt frei.
Der erste Treblinka-Prozess vor dem Landgericht Düsseldorf 1964–65
»Der Prozeß in Frankfurt stahl dem Prozeß in Düsseldorf die Aufmerksamkeit. Auschwitz siegte über Treblinka.«
Der Spiegel, Fagott geblasen, 1965
Nach dem Verfahren gegen Hirtreiter dauert es dreizehn Jahre bis zum nächsten Prozess gegen Lagerpersonal aus Treblinka. Wegen Verjährungen kann nun nur noch wegen Mordes Anklage erhoben werden.
Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg befragt zahlreiche Treblinka-Überlebende und kann 120 Verdächtige identifizieren. Sie übergibt ihre Vorermittlungen an die Staatsanwaltschaft Düsseldorf, die im Dezember 1959 Kurt Franz, einen der früheren Lagerkommandanten, verhaftet.
Franz konnte nach dem Krieg aus der Gefangenschaft fliehen und lebt unbehelligt in Düsseldorf. Bei ihm wird ein Fotoalbum gefunden, das einige der wenigen Bilder aus Treblinka enthält. Die anderen ehemaligen Kommandanten können nicht angeklagt werden: Irmfried Eberl begeht 1948 in Haft Suizid und der Aufenthaltsort von Franz Stangl ist noch unbekannt.
Kurt Franz, der ranghöchste der zehn Angeklagten, weist jede Verantwortung von sich. Doch das Gericht sieht in ihm einen sadistischen Überzeugungstäter und verurteilt ihn zu lebenslangem Zuchthaus. 1993 wird Franz aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen.
Neben Franz erhalten fünf Angeklagte Haftstrafen zwischen drei und zwölf Jahren. Heinrich Matthes, Willi Mentz und August Miete werden zu lebenslanger Haft verurteilt. Bei Matthes, Miete und Franz erkennt das Gericht einen enormen Hass auf alles Jüdische und eine Lust am Töten. Zudem hätten sie sich das Ziel, alle Juden und Jüdinnen zu töten, zu Eigen gemacht. Somit gelten sie als “Mittäter”. Lediglich Otto Horn spricht das Gericht frei, da es ihm einen Putativnotstand zubilligt.
Der Prozess ist mit 103 Verhandlungstagen nach dem Frankfurter Auschwitz-Prozess das zweitgrößte NS-Verfahren der Bundesrepublik. Über 100 Zeug:innen werden teils in Israel, Kanada und den USA befragt. Das Interesse in der Öffentlichkeit bleibt dennoch gering.
Der zweite Treblinka-Prozess vor dem Landgericht Düsseldorf 1970–71
Beim ersten Düsseldorfer Treblinka-Prozess sitzt der ehemalige Lagerkommandant Franz Stangl nicht auf der Anklagebank. Die Amerikaner hatten ihn zwar 1945 verhaftet, aber er kann fliehen und lebt zunächst in Damaskus. Simon Wiesenthal spürt ihn 1967 in Brasilien auf. Stangl wird verhaftet und an die Bundesrepublik ausgeliefert. Am 13. Mai 1970 beginnt sein Prozess in Düsseldorf.
Vor Gericht schiebt Stangl jede Verantwortung auf seinen Vorgesetzten Wirth: »Ich habe nichts auf dem Gewissen. Ich habe nur meine Pflicht getan.« Er leugnet, überhaupt Lagerkommandant gewesen zu sein. In der Presse werden Stangls Ausführungen sarkastisch kommentiert: »Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis die Legende entsteht, im Vernichtungslager Treblinka [hätten sich] etwa 700.000 Menschen jüdischen Glaubens selbst das Leben genommen.«, so Lothar Bewerung in der FAZ. Dietrich Strothmann verweist in Der Zeit auf die Unmöglichkeit, die Schuld des Angeklagten in einem Urteil abzubilden: »Wer vermag solche Schuld zu messen? Wer kann da Gerechtigkeit üben? Nicht nur die Sprache versagt vor solchem Verbrechen. Es versagt auch jeder Richterspruch. Der Tod von Treblinka bleibt ohne Sühne.«
Das Gericht verurteilt Stangl wegen gemeinschaftlichen Mordes an 400.000 Menschen zu lebenslanger Haft. Noch bevor das Urteil rechtskräftig wird, verstirbt Stangl im Juni 1971 in Untersuchungshaft an einem Herzinfarkt.
Weitere Täter aus Treblinka vor Gericht
Teilweise werden Täter der »Aktion Reinhardt« auch in anderen Prozessen verurteilt. Josef Oberhauser erhält 1965 im Münchner Belzec-Prozess wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in diesem Lager eine Haftstrafe von lediglich viereinhalb Jahren. Oberhauser war in Belzec Adjutant des Lagerkommandanten Wirth und hatte die Errichtung von Belzec, Sobibor und Treblinka beaufsichtigt.
Erich Fuchs wird 1966 im Hagener Sobibor-Prozess angeklagt. In Treblinka hatte er gemeinsam mit dem schon 1950 in Berlin verurteilten Erich Bauer die Vergasungsanlagen installiert und war deshalb als »Gasmeister« bekannt. Das Hagener Gericht verurteilt ihn wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord zu vier Jahren Haft.
Auch das Verfahren gegen Dr. Ludwig Hahn vor dem Landgericht Hamburg hat einen Bezug zum Lager Treblinka: Wegen seiner Mitverantwortung für die Deportation der Jüdinnen*Juden aus dem Warschauer Ghetto wird der frühere Befehlshaber der Warschauer Sicherheitspolizei 1975 zu lebenslanger Haft verurteilt. 1983 kommt Hahn aus dem Gefängnis frei.
Enorme mediale Aufmerksamkeit erfährt das Verfahren gegen John Demjanjuk in Jerusalem im Jahr 1986. Demjanjuk war als Rotarmist in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. In Trawniki wurde er zum SS-Helfer ausgebildet und in Lagern der SS eingesetzt. Nach dem Krieg wandert Demjanjuk in die USA aus, ehe Israel einen Auslieferungsantrag stellt. Dort wird Demjanjuk zum Tode verurteilt, weil er der grausame Treblinka-Wachmann »Iwan der Schreckliche« gewesen sein soll. Das Revisionsverfahren entkräftet diesen Vorwurf jedoch. Demjanjuk kommt 1993 nach sieben Jahren in Untersuchungshaft frei.
Der Prozess zeigt jedoch, dass Demjanjuk in Sobibor Dienst getan hat. Deutschland erwirkt deshalb seine Auslieferung. Demjanjuk wird 2011 in München zu fünf Jahren Haft verurteilt. Obwohl das Urteil aufgrund seines Tods nicht rechtskräftig wird, löst es zahlreiche neue Ermittlungen aus: Inzwischen hat sich in der deutschen Justiz die Auffassung durchgesetzt, dass der Aufenthalt als Wachmann in einem Lager für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord ausreicht.