Lagerstruktur und Mordprozess
»Dieser Tag ist ganz besonders hart. Ein Zug mit achtzehntausend Menschen kommt an, und alle Gaskammern sind in Betrieb. Wir arbeiten. Hin und wieder gibt es Träger, die alles stehen und liegen lassen, sich in die tiefe Grube nahe den Todeskammern werfen und auf diese Weise ihrem verfluchten Leben ein Ende machen. Endlich schlägt es sechs Uhr abends. Ein Schrei: »Antreten!« Wir versammeln uns, und unser Scharführer-Chef, Matias [Es handelt sich um den SS-Scharführer Heinrich Arthur Matthes], befiehlt uns, ein schönes Lied zu singen. Wir müssen alle singen. Dann vergeht noch eine Stunde, bis wir in die Baracken zurückkehren.«
Chil Rajchman, Ich bin der letzte Jude, 2009
»Es wurde angeordnet, die Juden aus Ostrowiec noch in derselben Nacht in die Gaskammern zu schicken. Der Befehl wurde ausgeführt. Wir waren schon in den Baracken eingeschlossen und konnten nichts sehen. Wir hörten nur die üblichen Schreie. Aber als wir am nächsten Morgen zur Arbeitsstelle gingen, entdeckten wir die Spuren dessen, was nachts geschehen war. Die Rampenarbeiter öffneten die Klappen der Gaskammern und begannen, die Leichen herauszuziehen. Die Träger schleppten sie bis zu den Gruben. Dieses Mal hatten die Träger und die Aufräumer der so genannten Schlauchkolonne eine ganz neue Aufgabe zu erfüllen. Der Gang des Gebäudes mit den drei kleinen Gaskammern war mit Leichen übersät. Das geronnene Blut reichte bis zu den Knöcheln. Von den Ukrainern erfuhren wir, was geschehen war. Eine Gruppe von mehreren Dutzend Männern hatte sich geweigert, die Gaskammer zu betreten. Nackt, wie sie waren, wehrten sie sich mit ihren Fäusten und wollten sich nicht hineinstoßen lassen. Daraufhin eröffneten die SS-Männer mit ihren Maschinengewehren das Feuer und machten die Rebellen auf der Stelle nieder.«
Chil Rajchman, Ich bin der letzte Jude, 2009
»Um den 10. Januar herum kamen Transporte aus den Grenzgebieten, aus Białystok, Grodno und Umgebung. Der Winter war äußerst hart, es herrschte klirrende Kälte. Die Sadisten hatten sich einen neuen Zeitvertreib ausgedacht. Bei zwanzig Grad unter null schickten sie die jungen Frauen nicht gleich in die Gaskammer, sondern ließen sie erst einmal nackt im Freien stehen. […] die Mädchen, in Reihen aufgestellt, mussten halb erfroren mit bloßen Füßen im Schnee warten, sie zitterten vor Kälte, sie weinten, drängten sich aneinander und flehten vergeblich, »ins Warme« gelassen zu werden, wo der Tod auf sie wartete. Die Ukrainer und die Deutschen blickten amüsiert auf diese jungen Körper, sie machten Witze und lachten, bis sie sich endlich gütig zeigten und dazu herabließen, sie ins »Bad« zu schicken. Solche Szenen wiederholten sich noch oft den ganzen Winter über.«
Chil Rajchman, Ich bin der letzte Jude, 2009